INDUSTRIELLE ENTWICKLUNG
Der pensionierte Polizeidirektor Leopold Pausinger kaufte mit seinen Ersparnissen im Herbst 1820 die von Ignaz Osmann 1771-1774 errichtete Mühle, die Theresienmühle, von Johann Nußdorfer und bestellte den Kärntner Erfinder Franz Xaver Wurm zum Direktor der Fabrik. Wurm richtete – mit von ihm selbst entwickelten Maschinen – die »k.k. privilegierte Flachs- und Werg-Spinnfabrik zu Marienthal« – die erste Textilfabrik Marienthal – an der Piesting (am heutigen Feilbach) ein, welche 1823 den Betrieb aufnahm. Die Flachs- und Wergspinnerei musste aber nach der im März 1826 erfolgten Verhaftung Wurms wegen Geldfälschung bereits 1827 aus finanziellen Gründen wieder geschlossen werden.
1830 nahm die »Flachsspinn- und Hechelfabrik« von Hermann Todesco den Betrieb im ehemaligen Pausinger-Wurmschen Fabriksgebäude auf, obwohl er diese erst 1832 rechtsgültig erwarb.
Ab 1833 erfolgte der Um- und Zubau zur »k.k. privilegierten Marienthaler Baumwoll-Gespinnst und Woll-Waaren-Manufactur-Fabrik« – der zweiten Textilfabrik Marienthal.
Darin befanden sich nunmehr eine Baumwollspinnerei (1835 mit 6.500 Spindeln) und die erste mit Wasserkraft betriebene Baumwollweberei Österreichs (1835 mit 80 Webstühlen), Kanzlei- und Lagerräume sowie Wohnungen für die Arbeiterschaft und den Fabrikdirektor samt Familie.
Nach dem Tod Hermann Todescos im November 1844 wurde das Unternehmen von seiner Witwe Johanna Todesco vorübergehend weitergeführt und 1845 aufgelassen.
1845 gründete Max Todesco, Hermann Todescos ältester Sohn, die Marienthaler Baumwollspinnfabrik als neues Unternehmen. Er legte die Fabrik seines Vaters vorübergehend still und ließ das alte Fabriksgebäude im Sommer 1845 zum Arbeiterwohnhaus umbauen (Altgebäude). Mit der Errichtung weiterer Wohngebäude war dies die Geburtsstunde der Arbeiterkolonie Marienthal.
1845 erwarb Max Todesco auch die vermutlich 1751 vom Müllermeister Ignaz Osmann erbaute Ladenmühle, welche er 1846 abreißen ließ und mit dem Bau einer neuen Spinnerei begann. Diese wuchs zur drittgrößten Fabrik im Amtsbezirk Ebreichsdorf heran – der dritten Textilfabrik Marienthal – und wurde 1864 mit der nahen Textilfabrik Trumau zur »Marienthaler und Trumauer Actien-Spinn-Fabriks-Gesellschaft« fusioniert, welche später in »Actien-Gesellschaft der Baumwoll-Spinnereien, Webereien, Bleiche, Appretur, Färberei und Druckerei zu Trumau und Marienthal« umbenannt wurde.
Ab 1858 wurde die Fabrik von seinen Brüdern Eduard und Moritz Todesco, bekannt als die Ringstraßenbarone, weitergeführt.
Den Umfang der Textilfabrik und der Arbeitersiedlung zum Stand 1914 zeigt eindrucksvoll das von Ferdinand Weeser-Krell gemalte Bild „Textilfabrik Marienthal“. Das Original ist im Besitz der Marktgemeinde Gramatneusiedl.
Quelle: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (Graz), Virtuelles Archiv „Marienthal“.
Foto: Burkhard Gager, © Copyright
Im Mai 1925 übernahm die »Vereinigte Österreichische Textil-Werke Mautner Aktiengesellschaft« von Isidor Mautner und dessen Sohn Stephan Mautner den Aktienbestand der »Actien-Gesellschaft der Baumwoll-Spinnereien, Webereien, Bleiche, Appretur, Färberei und Druckerei zu Trumau und Marienthal«, damit auch gleichsam die Textilfabrik Marienthal. Damit setzte ein letzter Aufschwung ein, der 1929 zum Beschäftigtenhöchststand in der Fabrikgeschichte Marienthals führte: 1200 Arbeiter und Arbeiterinnen sowie 90 Angestellte.
Die Rezession der 30er Jahre im 20.Jahrhundert führte zur völligen Stilllegung der Textilfabrik.
Die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit eines ganzen Ortes wurden in der weltweit ersten soziographischen Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ Erstausgabe1933 erforscht.
Danach versuchten rasch wechselnde Unternehmer die Textilfabrik als Weberei bzw Näherei, jedoch ohne anhaltenden Erfolg, wieder aufleben zu lassen.
1962 eröffnete am historischen Standort die »Para-Chemie« (später »Evonik Para-Chemie, Ges.m.b.H.«), schloss jedoch wegen Verlagerung der Produktion nach China wieder 2017.
Für Detailinteressierte:
► Die Textilfabrik Marienthal, verfasst von Prof. Reinhard Müller
► Wohnhäuser der Textilfabrik Marienthal 1930, verfasst von Prof. Reinhard Müller